venezia. piazza marsaglia

aus dem Roman: Calcata (alle Rechte: Braumüller Verlag, Wien & Mike Markart

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Venezia. Piazza Marsaglia.
(Ein Nachtrag Emilio Persichettis.)
In keiner Stadt war ich so oft wie in Venezia, flüstert Emilio Persichetti.
Alle paar Monate führte meine Reise mich dorthin.
Oftmals blieb ich darüber hinaus wochenlang dort.
Als ich das erst Mal nach Venezia kam, war ich irritiert von der überwältigenden Zahl der Menschen, welche die Stadt einzuatmen imstande war.
Ich wurde hilflos durch die Gassen gespült mit meinem Gepäck, wie ein Boot, das nicht mehr zu steuern ist, bis hinunter auf die Piazza San Marco. Es war mir nicht möglich, auch nur für einen Augenblick irgendwo vor Anker zu gehen.
An seiner Mündung entließ der Menschenstrom mich endlich aus seiner Gewalt und ich stand und schaute hinaus aufs Meer. Hinüber nach Giudecca und San Giorgio.
Ich war bezaubert und gleichzeitig betrübt, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass Venezia auch nur ein einziges Geheimnis bewahren hat können angesichts der haltlosen Neugier der tagtäglich herein brechenden Menschenflut.
Ich nahm mir vor, ein wenig durch die Gassen zu gehen, übers Meer zu den Inseln zu fahren und alsbald wieder abzureisen.
Am besten noch am selben Tag.
Nachdem ich die Inseln besucht hatte, wollte ich die Stadt ein letztes Mal durchqueren, um zur Bahnstation zu gelangen. Nahm dementsprechend in Kauf, abermals in den reißenden Strom zu geraten, der kein Halten kennt.
Der an einem zerrt, einen vor sich her treibt und ohne Unterlass in den Rücken stößt.
In der Nähe der Piazza San Marco stieg ich vom Boot.
Und mündete gleichzeitig in das Menschengewässer, das mich im selben Moment fortriss.
Kurze Zeit später fand ich mich bereits in der Calle dei Fabbri wieder, denn die Fließgeschwindigkeit war enorm. Ich war erschöpft und musste meine letzten Kräfte mobilisieren, um mich auf den Beinen zu halten.
Plötzlich spürte ich in meinem Rücken einen Schlag. Ich stolperte und brachte gerade noch mein Gepäck zwischen mich und die Hausmauer, welche einen kleinen Vorsprung ins Bild der Calle zeichnete.
Als ich mich nach ein paar atemlosen Minuten einigermaßen erholt hatte, vom Schreck und der Anstrengung, bemerkte ich, dass es sich nicht um einen Mauervorsprung handelte, sondern um den Anfang einer Gasse, die ich nicht bemerkt hätte, wäre ich nicht durch mein Stolpern zum Stillstand gekommen an genau dieser Stelle.
Um dem reißenden und gefährlichen Strom zu entkommen, für den mir einfach die Kraft fehlte, ging ich in die Gasse hinein.
Sie war so eng, dass ich mein Gepäck vor meinem Körper halten musste, um sie überhaupt passieren zu können. Ich hatte allerdings nicht weit zu gehen, nur wenige Schritte, dann war die Gasse zu Ende und ich gelangte auf die Piazza Marsaglia.
Einen kreisrunden Platz von der Kleinheit  eines Marktplatzes.
Ich sah hinter mich, aber niemand war mir gefolgt.
Einige Menschen waren auf der Piazza unterwegs. Manche saßen unter den Bäumen in der Mitte des Platzes.
Vor einem Lokal waren Tische aufgestellt.
Der Gemüsehändler hatte in mehreren Kisten Zitronen, Paprika, Zwiebeln und Tomaten neben der Tür stehen.
Ich erreichte das Lokal, stellte mein Gepäck ab und suchte Blickkontakt mit dem Kellner.
Als er mich gesehen hatte, zog ich die Brauen hoch. Er nickte und kam mit langsamen Schritten auf mich zu und schob bei einem der Tische den Sessel zurecht.
Ich nahm Platz.
Eigentlich hatte ich nicht vor, in Venezia zu essen. Ich hätte mir am Bahnhof irgendetwas gekauft für die Reise.
Das hätte mir genügt.
Ich habe gerne meine Ruhe, wenn ich esse.
Die Piazza Marsaglia, die ich zufällig gefunden hatte, vermittelte aber gerade jene einladende Ruhe. Ich ließ mir vom Kellner die Speisekarte bringen und eine große Karaffe Wasser.
Nachdem ich die Speisekarte durchgesehen hatte, bestellte ich Pasta mit Meeresfrüchten.
Als er mir den Teller mit meinem Essen brachte, sprach ich den Kellner darauf an, dass es hier auf der Piazza so ruhig ist, wo doch wenige Meter weiter Massen von Menschen durch die Stadt fließen, voll rücksichtsloser Wildheit.
Sie sind der erste, der es hier herein geschafft hat, sagte der Kellner.
Das Unwetter dort draußen treibt die Menschen so heftig an, fährt so unbändig in ihre Segel, dass die Gasse, die hierher auf die Piazza führt, für sie unsichtbar ist, sagte er in mein ungläubiges Gesicht hinein.
Niemals zuvor ist jemand von draußen hier auf der Piazza gewesen.
Alle hetzen blindlings vorbei.
Erzählte der Kellner, während ich aß.
Nachdem ich mein Essen und das Wasser bezahlt hatte, nahm ich mein Gepäck und ging jenen Kreis, welchen die Piazza Marsaglia zeichnet.
Es war ein angenehm lauer Sommerabend.
Ich wollte nicht gleich wieder hinaus ins Unwetter und suchte nach einer Pension, einem Hotel.
Natürlich konnte ich keines finden. Wenn niemals ein Fremder, ein Reisender hierher kommt, wozu sollte man Zimmer anbieten?
Ich ging zurück ins Lokal und befragte den Kellner diesbezüglich. Über dem Buchladen, sagte er, gäbe es seines Wissens leerstehende Räume.
Die Buchhändlerin könnte mir sicher weiter helfen.
Das Geschäft war gleich gegenüber dem Lokal.
Giacinta, so hieß die Ladenbesitzerin, war erstaunt, einen Fremden hier auf der Piazza zu sehen. Ich erzählte ihr, wie ich hierher gefunden hatte. Und sagte, dass ich gerne ein paar Tage bleiben würde. Dass mich der Kellner des Lokals an sie verwiesen hatte.
Es gibt zwei Zimmer, die ich nicht nutze, im Dach über der Buchhandlung, sagte sie.
Aber sie sind nicht aufgeräumt.
Der Preis, den Giacinta nannte, war wohltuend niedrig. Ich willigte also ein und sie begleitete mich hinauf.
Eines der Zimmer war bis obenhin vollgeräumt mit Büchern, das konnte ich nicht benutzen. Das zweite schaute hinunter auf die Piazza, war nett eingerichtet und als Giacinta das Fenster öffnete und die laue Abendluft hereinzog, konnte ich nicht glücklicher sein.
Ich blieb einige Tage.
Ich stellte fest, dass die Piazza wie ein von Venezia unabhängiges Dorf funktioniert. Abends saßen Giacinta und ich unter den Bäumen und unterhielten uns.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon viele Orte gesehen, hatte das Land von Süden bis in den Norden hinauf bereist.
Dennoch war ich wie verzaubert von dem, was Giacinta erzählte. Jene Frau, die niemals in ihrem bisherigen Leben über die Piazza Marsaglia mitten in Venezia hinausgekommen war.
Als ich abreiste, hinaus musste in das Unwetter, in die Calle dei Fabbri und dann weiter zum Bahnhof, war ich trübe und regnerisch, noch die ganze Fahrt über, die mich stundenlang das Land südwärts führte.
Ich besuchte kurz nacheinander zwei Orte.
In diesen fand ich allerdings nur Geheimnislosigkeit und Stillstand.
Als ich bemerkte woran es lag, setzte ich mich sofort in den Zug und fuhr zurück nach Venezia.
Ich ließ mich bereitwillig vom Bahnhof hinunter zur Calle dei Fabbri spülen von jenem gewaltigen Unwetter, nahm die winzige Gasse, welche nur als Mauervorsprung zu erkennen war und atmete auf, als ich die Piazza Marsaglia endlich erreicht hatte.

[...]

Osteria. Venezia. Piazza Marsaglia.

Osteria. Venezia. Piazza Marsaglia

Osteria. Venezia. Piazza Marsaglia